Können wir kurz reden?

Es geht um Twitter, und ich habe hier ein paar Probleme. — Twitter ist eine dieser Webanwendungen, deren Technik schneller verständlich ist als das Konzept. Technisch gesehen schreibt man nämlich einfach »was rein«, konzeptionell hat man anfangs jedoch nur eine vage Vorstellung davon, wer es liest. Und warum.

»Das ist sein ganzes Leben. Warum schickt er es mir?«
Indiana Jones

Nun, die Grundidee von Twitter ist schnell erklärt: Erzähle Deinen Freunden, was Du gerade tust. Erzähle es in einer Form, die sie, Deine Freunde, nicht von der Arbeit abhält, sie nicht bis unter die Dusche begleitet oder ihnen den #Tatort zerredet. Deine Freunde sind nämlich – konzeptionell – arg interessiert daran, was in Deinem Leben passiert, nur müssen die Dosis und der Zeitpunkt stimmen: Abends auf dem Sofa ist eine feine Sache. Zehnmal am Tag per Telefon (»Ich habe mir gerade einen Kaffee gemacht. Tschüss!«) strapaziert.

Twitter aber stört nicht. Twitter ist eine Kommunikationsform mit Time-Shift-Funktion. Du kannst jederzeit auf ‘Pause’ drücken und später wieder einsteigen. Twitter ist wie eine Livesendung, die Minuten oder Stunden vorher aufgezeichnet wurde. Und weil Twitter gerade ziemlich gute Quoten hat, können auch banale Dinge plötzlich spannend sein.

Prof. Henry Jones: »Ich sollte Dir etwas sagen..«
Indiana Jones: »Nicht jetzt, Vater!«
Prof. Henry Jones: »Der Fußboden brennt – und der Stuhl!«
Indiana Jones

Das ist wunderbar. Aber auch Teil meiner Probleme. — Wenn ich das richtig deute, bin ich selbst sogar Teil eines großen Problems, das auch prominente Leute wie @BarackObama oder die Frau von Ashton Kutcher betrifft.

Wir alle haben eine Timeline bei Twitter, durch die das Leben unserer Freunde rasselt, und wenn wir nicht schnell genug sind, verpassen wir es. Ich habe zum Beispiel das Gefühl, längst nicht alles mitzubekommen von dem, was Barack tagsüber macht. Und ich wette, auch Barack verpasst viel von meinem Leben. Das würde vermutlich nicht passieren, wenn wir häufiger telefonierten. Strömungen im Netz aber führten seinerzeit dazu, dass wir Twitter als primäre Kommunikationsform nutzen.

Vielleicht ließen sich Probleme bei Twitter lösen, wenn man seinen Freundeskreis enger schnallte. Eine Handvoll guter Leute, und Du bist wieder mittendrin in ihrem Leben. Das ginge allerdings gegen das Konzept. Twitter funktioniert doch gerade deshalb so toll, weil Du weltweit Kontakte knüpfen kannst, ohne jemandem zu nahe zu treten. Twitter ist multikulturell und macht die Welt ein Stück kleiner.

»Brody hat Freunde in jedem Dorf und in jeder Stadt von hier bis zum Sudan. Er spricht alle Sprachen und kennt die lokalen Gebräuche.«
Indiana Jones

Wenn nun Baracks, meine und Frau Kutchers Timelines zu schnell laufen, so dass wir oft das Gefühl haben, auf der Strecke zu bleiben, dann ist das vielleicht gar kein Problem, sondern zeugt von Weltoffenheit. Es offenbart unser Interesse an anderen Menschen und an fremden Kulturen.

Vielleicht muss man auch gar nicht alles lesen, was geschrieben wird. So eine Twittertimeline ist doch eigentlich kaum anders als ein Poesiealbum. Es geht dabei vor allem um den symbolischen Akt. Es geht ums Reinschreiben, und nicht ums Lesen.

Lesen können wir später.
Irgendwann, wenn mal genug Zeit ist und wir nett zusammensitzen.


Webstandards-Magazin, Ausgabe 02/2009

Erschienen in: Webstandards-Magazin, Ausgabe 02/2009